Superintendent Raddatz zum 8. Mai: Macht Erinnern Sinn?

Superintendent Raddatz zum 8. Mai: Macht Erinnern Sinn?

Superintendent Raddatz zum 8. Mai: Macht Erinnern Sinn?

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Superintendent Raddatz zum 8. Mai: Macht Erinnern Sinn?

Erinnern beginnt bei uns selbst. Ich bin ohne Großväter aufgewachsen – eine direkte Folge des Krieges. Der eine Großvater starb an den Spätfolgen der Gulag-Haft im fernen Irkutsk, der andere erlag nach Kriegsende einem Granatsplitter. Zwei Lebensgeschichten, ausgelöscht vom Grauen eines Krieges, dessen Schatten bis heute reichen.

Wir, die Nachgeborenen, wuchsen mit Eltern auf, die den Krieg als Kinder erlebt haben – unmittelbar, ungeschönt. In den Trümmern Berlins, nach den Bombennächten, sahen sie auf dem Weg zur Schule die Ruinen der Häuser ihrer Freunde. Die Frage, ob diese Kinder noch leben, begleitete sie wie ein ständiger Alptraum, einer, aus dem sie nie mehr ganz erwachten.

Viele Erinnerungen bleiben im Verborgenen. Aber in Beerdigungsgesprächen, im leisen Zögern, in einem Blick, ahnen wir, was unausgesprochen blieb. Für mich als Pfarrer war das Schweigen über den Krieg – und über das Tätersein, stets ein Thema. In Familien, diesen kleinen Kosmen aus Nähe und Widerspruch, stellt sich immer auch die Frage nach der Deutungshoheit: Wer erinnert? Und wie?

Der 8. Mai prägt unser Gedenken, nicht nur im historischen, sondern auch im persönlichen Sinn. Er wirkt nach, über Generationen hinweg. Für uns als Evangelische Kirche ist dieser Tag ein Ruf zur Selbstvergewisserung. Dietrich Bonhoeffer hat es einmal so formuliert: Krieg verdunkelt die Offenbarung. Eine dunkle Wahrheit, die wir nicht übergehen dürfen. Gerade heute ist es unsere Aufgabe, unser Friedenszeugnis neu zu beleben – denn Krieg darf um Gottes Willen nicht sein.

Antisemitismus ist ein tiefer, schmerzlicher Teil unserer Geschichte. Ihn zu überwinden bleibt eine Herausforderung – nicht zuletzt, weil sich alte Stereotype zäh halten. Als Kirche tragen wir Verantwortung, und als Kirchenkreis setzen wir ein klares Zeichen: Mit unserem mittlerweile internationalen Projekt Lebensmelodien engagieren wir uns aktiv im Kampf gegen Antisemitismus.

Am 8. Mai verbinden sich in besonderer Weise Gedenken und geistliches Zeugnis: In der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gestalten wir einen Gottesdienst zum Kriegsende – gemeinsam mit dem Bundespräsidenten und den Spitzen der Verfassungsorgane. Unser Lebensmelodien-Ensemble wird dort die Klage musikalisch zur Sprache bringen – mit zwei überlieferten Lebensmelodien.

In der darauffolgenden Woche setzen wir das Erinnern fort: Gemeinsam mit Überlebenden aus Theresienstadt werden wir in Prag gedenken – an die Lebensmelodien, die beinahe zum Schweigen gebracht worden wären. Ihre Melodien weiterzutragen, ist unser Beitrag zur Erinnerung – und unser Widerspruch gegen das Vergessen.

Wir müssen uns als Kirche auch der unbequemen Frage stellen, wo wir selbst Nutznießer antisemitischer Verbrechen geworden sind.

Ein Beispiel: Unser Kirchliches Verwaltungsamt Mitte-West befindet sich heute in einem Gebäude, das einst einer jüdischen Familie gehörte. Bisher erinnert eine Tafel an die Familie. Aber einen Stolperstein, der an ihr Schicksal, an ihre Vertreibung erinnert, den werden wir noch verlegen. Erinnern heißt auch, Konsequenzen zu ziehen, öffentlich, ehrlich und selbstkritisch.

Nur so werden wir dem 8. Mai gerecht. Und nur so erfüllt Erinnern seinen Sinn. Das haben wir in vielfältiger Weise in den letzten Jahren in Tempelhof-Schöneberg gelernt.

In Tempelhof-Schöneberg und darüber hinaus haben wir, ein Team des Kirchenkreises, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen befragt, die den Krieg erlebten. Sie haben uns davon erzählt, wie und wo sie das Ende des Krieges erinnern. Hier können Sie die Erinnerungen nachlesen.

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