02/07/2024 0 Kommentare
Mythos Bindungstheorie
Mythos Bindungstheorie
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Mythos Bindungstheorie
Die kulturelle Blindheit der Bindungstheorie
In aktuellen Erziehungsratgebern, sowie im Lehrbereich der Pädagogik, wird der Name John Bowlby mit dem Universalitätsanspruch der Bindungstheorie verbunden. Noch heute ist sie im Bewusstsein junger Eltern tief verwurzelt und in Konzepten frühkindlicher Bildungsinstitutionen implementiert. Die Bindungstheorie findet ihren Ursprung in den 1950er- und 1960er Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie ist die am weitesten verbreitete Theorie der sozial-emotionalen Entwicklung von Kindern. Der britische Psychoanalytiker und Kinderpsychiater Edward John Mostyn Bowlby gilt als Begründer der Bindungstheorie. In den Wirren der Nachkriegszeit beobachtete Bowlby die Folgen von Traumata und Trennungen an Kindern. Seine Beobachtungen lassen in ihm die Überzeugung heranwachsen, dass familiäre Verhaltensdynamiken eine weitaus größere Rolle spielen, als innerpsychische Konfliktdynamiken. Bis 1951 erarbeitete er das Grundgerüst der Bindungstheorie, in der die Mutter als Organisator der Psyche des Kindes auftritt und der Begriff Bindung als eine Art Instinkt beschrieben wird. Dementsprechend wird Bindung als individuelles emotionales Band verstanden, dessen Entwicklung in Grundzügen erblich angelegt sei. Nach Bowlby entsteht Bindung in einem Prozess, der in vier Phasen geschieht:
- 1. Phase (Vorbindungsphase)
Zwischen Geburt und dem Ende des ersten Lebensmonats unterscheidet das Baby noch keine Personen, sondern ist ganz von seinen angeborenen Regulationsmöglichkeiten bestimmt.
- 2. Phase (Bindung im Entstehen)
Vom 2. Bis 6. Lebensmonat erkennen Kinder bereits ein vertrautes Gesicht und werden sozial aktiver.
- 3. Phase (klare Bindung)
Vom 6. Bis 18. Lebensmonat bildet sich eine Präferenz für eine bestimmte Person. Das ist in der Regel die Mutter, zu der die Kinder die Nähe suchen.
- 4. Phase (zielkorrigierte Partnerschaft)
Bis zum 2. Bzw. 3. Lebensjahr versteht das Kind zunehmend innere Befindlichkeiten und Motive.
(Keller 2019, S. 22-23)
Als generelle Grundlage der eben benannten Phasen nennt Bowlby Responsivität (Antwortverhalten), Wärme, Intimität und Kontinuität. Zur Zeit seiner Erarbeitung der Bindungstheorie wurde Bowlby des Öfteren kritisiert. Zum Beispiel warnte Margret Mead explizit vor der Generalisierung einer monokulturellen Sichtweise. Heute ist Heidi Keller, promovierte Psychologin und Leiterin der Abteilung Entwicklung und Kultur am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Osnabrück und der Forschungsstelle Entwicklung, Lernen und Kultur des Institutes für frühkindlichen Bildung und Entwicklung, eine seiner größten Kritikerinnen der Bindungstheorie. In ihrem hervorragenden Buch „Mythos Bindungstheorie – Konzept, Methode, Bilanz“ zeigt sie deutlich, dass die Bindungstheorie kein konsistentes und widerspruchsfreies Konzept ist. Aktuelle Befunde der Wissenschaft verschiedener Teildisziplinen lassen das Konstrukt wanken. Dementsprechend wirkt Bowlbys Bindungstheorie vielmehr als ein Konglomerat an verschiedenen Versatzstücken, zusammengehalten durch eine bestimmte Erziehungsideologie (vgl. Keller 2019). Keller verweist auf den systemischen Ursprung der Bindungstheorie. Ein Beispiel ist der wegweisende Fremde-Situationstest (Untersuchung von Trennungsverhalten zwischen Mutter und Kind und Stresssignalen der Kinder), welcher in Baltimore entwickelt und dementsprechend an euroamerikanische Mittelschichtfamilien angepasst wurde. Keller wirft Bowlby Kulturblindheit und euro-amerikanische Zentriertheit vor. Sie verweist auf etliche Publikationen, welche dieses Thema sich zum Anlass genommen haben. Ein Beispiel ist die Publikation von Robert LeVine, der die Bindungstheorie als moralisches Statement zugunsten von elterlichem, meist mütterlichen Verhalten, welches in der westlichen Erziehungsideologie begründet ist und andere kulturelle Vorstellungen häufig abwertet. Keller nennt noch 6 weitere Publikationen, welche sich kritisch der Bindungstheorie gegenüber positionieren. Zusammenfassend existiert genügend Literatur um Bindung wissenschaftlich zu verankern und kulturelle Bildungsmuster zu identifizieren. So gibt es einen nachhaltigen Forschungszweig, welcher sich mit polydiadischen Kommunikationswegen in früher Kindheit beschäftigt. Somit kann zum Beispiel Blickkontakt als Werkzeug zwecks Entwicklung einer Beziehungsmatrix von Neugeborene in anderen Kulturen anders gedeutet werden. Es entscheidet also der kulturelle Kontext. Das interessiert UniversalistInnen jedoch weniger, welche das Ziel haben, biologische Hintergründe als gemeinsames Repertoire nachzuweisen. Mit ihrem Buch räumt Keller mit Bowlbys Fehlinterpretationen auf. Zum einen zeigt sie, dass Bindungspersonen nicht nur Erwachsene sein können, wie es in der Bindungstheorie propagiert wird. Auch Kinder können wichtige Bindungspersonen im Leben eines kleinen Kindes sein. Weiter ist ein Kleinkind in der Lage mehrere intensive Bindungen einzugehen und nicht, wie es Bowlby beschreibt, nur einzelne wenige Bezugspersonen besitzt. Auch die Annahme, dass Bindung hierarchisch organisiert sei, wird von Keller als nicht richtig betitelt. Bowlby erklärt eine Person als primäre Bindungsperson, die zentral für die Emotionsregulation des Kinders verantwortlich ist. Sollte die primäre Bindungsperson abwesend sein, wird dann eine andere Bezugsperson einspringen. In aktuelleren Studien konnte jedoch nachgewiesen werden, dass die Bindung zur Mutter, sowie die Bindung zu Geschwistern, unabhängig voneinander existieren. Dementsprechend können auch andere Personen im „inneren Kreis“ wichtige Emotionsregulatoren sein. Zusammenfassend ist die Bindungstheorie kontextgebunden und an ökologische, ökonomische und soziale Realitäten der westlichen Mittelschichtswelt gekoppelt. Keller beschreibt kulturelle Alternativen der Kinderbetreuung und –erziehung. Zum Beispiel werden in vielen Kulturen Säuglinge und Kleinkinder von Beziehungsnetzwerken betreut, in denen verschiedene Personen, Erwachsene und Kinder agieren. Das gilt besonders für die dörflichen Kulturen in der nicht-westlichen Welt. Hier spielen Kinder eine weitaus wichtigere Rolle in der Beziehungsmatrix. Keller beschreibt Kindernetzwerke auch als Sozialisationsagenten (vgl. Keller 2019, S.74). Auch der Blickkontakt zwischen Mutter und Neugeborener variiert in den unterschiedlichen Kulturen. So ist es in Gebieten von Kamerun eine Geste des Respekts den Eltern nicht ins Gesicht zu gucken. Die eben beschriebenen Variationen der Kindersozialisation wären aus Sicht der Bindungstheorie höchst bedenklich.
Das Ziel dieses Textes ist es, als Elternteil seine eigene Haltung gegenüber Erziehungskonzepten zu überdenken. Die Bindungstheorie ist ein tief verwurzeltes Orientierungsmerkmal guter Bindung zum eigenen Kind und verunsichert gewordene Eltern in ihrem, vielleicht nicht der Norm entsprechenden, Erziehungskonstrukt. Teilweise entspricht unsere westlich-europäisch-amerikanische Vorstellung von „Bindung“ nicht der Alltagsrealität von anderen Familien in unserem Kontaktkreis. Dies führt zu grotesken Szenarien. Dieser Text soll ein kultursensibles Erziehungsverständnis vermitteln, Vorurteile abbauen und Eltern über ihre eigene Familienpädagogik hinausblicken lassen.
Quelle:
Keller H. (2019): Mythos Bindungstheorie – Konzept, Methode und Bilanz. Weimar: Verlag das Netz
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