Emotionale Perspektivenübernahme

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Emotionale Perspektivenübernahme

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Emotionale Perspektivenübernahme

Theory of Mind

Aus der Sicht von Erwachsenen ist das Verhalten von Kinder manchmal ein großes Rätsel. Elternsein heißt auch Unwissenheit auszuhalten und aus gemachten Fehlern zu lernen. Wir lernen viel über das Kind als Persönlichkeit, aber auch über uns selbst. Oft stehen wir vor Herausforderungen, welche uns Fragen aufwerfen, die leider nie richtig beantwortet werden. In der Familienberatung wird immer wieder die Frage gestellt, warum das eigene Kind so wenig Verständnis für die Entscheidung oder Lebenslage des Erwachsenen besitzt. Es finden oft Situationen statt, in denen Eltern Entscheidungen treffen, die aus konkreten Gegebenheiten resultieren und auch manchmal nicht mit dem Kind gemeinsam ausgehandelt werden können. Beispiele sind finanzielle Nöte oder psychische wie körperliche Probleme. Manche Entscheidungen bieten leider keine partizipative Mitgestaltungsmöglichkeiten und müssen dementsprechend „bestimmt“ werden. Hier wünschen sich oft Eltern von Kindern mehr Verständnis. Sollte dieses nicht vorhanden ist, wird das Kind oft als empathielos beschrieben. Warum die fehlende "Empathie" teilweise auch entwicklungspsychologisch begründet ist, möchte ich in diesem Blog erklären. Im Folgenden geht es um die „Theory of Mind“, kurz ToM.

Sogenannte "Jumps" zeichnen die kindliche Entwicklung, also Entwicklungssprünge, welche das schnelle aneignen von Fähigkeiten und Fertigkeiten beschreiben. Erikson spricht vom Übergang bestimmter Entwicklungsphasen. Mit etwa vier Jahren geschieht ein ganz besonderer Sprung. Natürlich bestimmt die Individualität des Kindes den Entwicklungsprozess und somit auch den Zeitpunkt der Aneignung von Fähigkeiten oder Fertigkeiten. Statistisch gesehen bildet ein Kind im Alter von vier Jahren die Fähigkeit aus, die geistige Perspektive einer anderen Person einzunehmen. Kasten spricht von kognitiver Perspektivenübernahmen (vgl. Kasten 2014). Kinder können sich dann von ihrem eigenen Wissensstand lösen und unterstellen diesen nicht mehr automatisch einer anderen Person. Sie sprechen der anderen Person eine ganz eigene Sicht der Dinge zu. Diese Fähigkeit resultiert aus dem Prozess, seine eignen mentalen Aktivitäten mit denen anderer Menschen in Beziehung zu setzen. Heißt: Ältere Kinder akzeptieren bei ihren Interaktionspartnern eigene Bewusstseinsvorgänge. Hier erkennen wir die Grundsäule der Theorie of Mind. Haug-Schnabel und Bensel schreiben: Sie verstehen, dass ihre Bewusstseinsinhalte das Ergebnis von Denkvorgängen und Wahrnehmungsakten sind und deshalb beim Vergleich mit den Vorstellungen anderer Menschen individuelle Unterschiede und Fehlannahmen aufgrund eines Informationsdefizits auftreten können (vgl. Haug-Schnabel u. Bensel 2017). Dieser Entwicklungssprung der kognitiven Wahrnehmung kann mittels spezifischer Frage-Antwort-Spiele festgestellt werden. Wimmer und Perner beschrieben 1983 sogenannte False-Belief-Aufgaben.

Erst Kinder um das vierte Lebensjahr herum können die ersten Ansätze von Perspektivübernahme aufzeigen. Dieser Zustand wird als „erste Ordnung“ der Theory of Mind“ beschrieben. Durch empirische Forschungen entsteht der Verdacht, dass Kinder sich schneller in die Gedankenwelt einer anderen Person hineinversetzten können, wenn sie selbst in größeren Familien aufwuchsen. Bei Kindern in eher kleinen Familien bildet sich dieser Zustand der „ersten Ordnung“ erst später aus. Dabei soll die Interaktion mit Geschwistern ausschlaggeben sein. Allgemein gesprochen: Die erste Ordnung der Theory of Mind ist im Schulalter vollkommen ausgeprägt. Anschließend folgt die zweite Stufe, in der Kinder die Fähigkeit zur Annahmen-Differenzierung entwickeln. Sie hinterfragen und durchdenken, ob die Annahme einer Person A über die Meinung einer anderen Person B falsch sein könnte. Sollte die eben beschriebene Fähigkeit ausgebildet sein, befinden sich das Kinder in der zweiten Ordnung der Theory of Mind. Somit sind sie auch in der Lage Ironie oder bestimmte Witze zu verstehen und bewusst zu lügen.

Brüning gibt die Entwicklung der Theory of Mind in Stufen an:

Alter

Fähigkeit

Ca. 18 Monate          

Imitation intendierter Handlungen

Unterscheidung zwischen eigenen und fremden Gefühlen

Beginn des Symbol- und Fiktionsspiels

Ca. 2 Jahre

Entwicklung der Fähigkeit, anderen Personen, unabhängig von den eigenen Wünschen und Gefühlen, Gefühle und Wünsche zuzuschreiben

Ca. 4 Jahre

Verständnis, dass man eine falsche Überzeugung über einen Sachverhalt haben kann, d.h. Unterscheidung zwischen Überzeugung und Realität

Ca. 6 Jahre

Entwicklung des Verständnisses, dass jemand eine falsche Ansicht über die Meinung eines anderen haben kann

Ca. 12-17 Jahre

Verständnis unterschiedlicher Interpretationsperspektiven

 

(vgl. Bruning 2005, S.79)

Ein weiterer logischer Schritt ist „emotionale Perspektivenübernahme“. Damit ist die Fähigkeit gemeint, die Gefühle der anderen Person zu verstehen, welche sich in einer ganz bestimmten Situation befindet. Wichtig zu erwähnen ist, dass das Kind die Gefühle nicht nachempfindet, sondern sie gedanklich erschließt (vgl. Bruning 2005). Dementsprechend handelt es sich nicht nur um Empathie. Im Alter von drei bis sechs Jahren, entwickelt sich die Fähigkeit zur Differenzierung von Emotionen und den jeweiligen Auslösebedingungen. In den anschließenden Jahren beherrscht das Kind die emotionale Perspektivübernahme zunehmend besser. Wichtig ist aber, dass diese Fähigkeit in einem stetigen Aushandlungs- und Lernprozess steht. Eltern müssen sich dem immer bewusst sein.

Der vorrangegangene Text soll Eltern Einblick in die psychische Entwicklung ihres Kindes geben und vielleicht Verständnis produzieren. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Sie setzten sich aktiv mit ihrer Umwelt auseinander und lernen daraus. Vielleicht konnte die Theory of Mind die Lernprozesse und Hürden der Auseinandersetzung ihrer Kinder erhellen.

Quellen:

Bruning, N. /Konrad, K. & Herpertz-Dahlmann, B. (2005): Bedeutung der Theory-of-Mind-Forschung für den Autismus und andere psychische Erkrankungen. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie

Kasten, H. (2014): Entwicklungspsychologische Grundlagen. 4. Überarb. Auflage. Berlin: Cornelsen

Haug-Schnabel, G. & Bensel, J. (2017): Grundlagen der Entwicklungspsychologie. 12.Auflage. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder GmbH

Wimmer, H. & Perner, J. (1983): Beliefs about beliefs: Representation and constraining function of wrong beliefs in young children’s understanding of deception. Cognition 13, 103-128

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