02/07/2024 0 Kommentare
Mythos "normale Entwicklung"
Mythos "normale Entwicklung"
# SchöneMitteFamilien

Mythos "normale Entwicklung"
Als älteste Institution der Menschheit stand die Familie von jeher im Zentrum der Aufmerksamkeit. Pointiert ausgedrückt: Der gesellschaftliche Zeitenwandel bestimmt den Modus der Familie. Er verlangt ein fluides Familiensystem, welches sich ständig an sich ändernde Bedingungen anzupassen weiß. Diese stetige Neuorientierung innerhalb der Familienkultur besitzt ein fundamentales und existenzielles Entwicklungs- und Konfliktpotenzial, das von jeher die Liebesbeziehung der Erwachsenen sowie das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern prägt (vgl. Juul 2021).Dementsprechend besitzen FamilienmitgliederInnen einen tiefgreifenden Einfluss aufeinander und sind für die Entwicklung und das Wohlergehen des Einzelnen oder der Einzelnen von vitaler Bedeutung.
Frisch gewordene Eltern bewegen sich mit ihrer Familie meistens in sozialen Räumen, in denen sie Menschen begegnen, welche Teil einer Familie oder Bildungsinstitution sind. Sie besuchen Krabbel-, Sport-, Musik-, oder Tanzgruppen. Gespräche werden dann mit PädagogInnen oder anderen Eltern geführt. Nicht selten bekommt auch der eigene Freundeskreis bald Kinder oder hat diese schon. Das Kind spielt also in der Kommunikation von Eltern eine wichtige Rolle und ist immer wieder Thema bei gemeinsamen Treffen. Meistens entsteht dann eine vergleichende Haltung untereinander. Nicht immer im Sinne eines Konkurrenzdenkens, sondern oft in einer wertschätzenden und interessierten Grundannahme. Weiter lesen Eltern immer wieder von Fixpunkten einer „normalen Entwicklung“. Hier entsteht der Eindruck, dass die Kinder ein berechenbares Heranwachsen durchleben. Das schürt manchmal Angst, denn nichts ist schlimmer als die Furcht vor einer Entwicklungsverzögerung oder –störung das eigenen Kindes.
Der folgende Text soll Eltern dabei helfen, die Entwicklung ihres eigenen Kindes zu verstehen und vielleicht mit ein bisschen mehr Nachsicht zu betrachten. Zusammen probieren wir auf wissenschaftlicher Basis prägnant und kurz Einsicht in die Entwicklung von Kleinkindern zu erhalten.
Zu Beginn ist zu sagen, dass ein modellhaftes und idealtypisches Durchschnittskind, welches in sämtlichen Bereichen eine „altersgemäße Entwicklung“ erlebt, sehr Realitätsfremd ist. Es existiert zwar ein grober Rahmen, der sich jedoch sehr individuell füllen lässt. Der Züricher Entwicklungsforscher Remo Largo verweist auf die individuelle Entwicklung von Kindern (vgl. Largo 2012). Er kommt zu dem Ergebnis, dass kein Entwicklungsmerkmal bei Kindern desselben Alters gleich ausgeprägt ist (vgl. Largo 2012). Den Grund sieht Largo in unterschiedlich angelegten Eigenschaften und Fähigkeiten. Diese Veranlagung wird durch der individuell erlebten Umgebung unterschiedlich stark angesprochen und reift dementsprechend verschieden schnell heran. Einen solchen Prozess bezeichnet Largo als interindividuelle Variabilität (vgl. Largo 2012). Sie entspricht der Realisierung von vorhandenen Potenzen. So können beispielsweise schnellere Fortschritte beim Sprechen als in der motorischen Entwicklung stattfinden. Die Unterschiede einzelner Entwicklungsverläufe sind so groß, dass alle einschränkenden Normvorstellungen nicht der Wirklichkeit entsprechen. So entstehen für PädagogInnen folgende Leitsätze, welche wunderbar für Eltern übertragbar sind:
- Es ist normal, dass sich nicht alle gleichaltrigen Kinder einer Gruppe gleich schnell entwickeln
- Es ist normal, dass ein Kind in einem seiner Entwicklungsbereiche bedeutend weiterentwickelt ist als in seinen anderen Entwicklungsbereichen
(vgl. Largo 2013)
Dr. Katrin Hille, Diplom-Psychologin und Leiterin des ZNL Transfer Zentrum für Neurowissenschaften, und KollegInnen haben sich ausführlich mit der Entwicklung vom Säugling zum Kleinkind beschäftigt. An ausgewählten Beispielen verdeutlichen sie die vielfältige und damit auch höchst unterschiedliche Entwicklung zum Kleinkind und zeigen auf, dass Kinder teilweise Entwicklungsstufen auslassen oder überspringen und trotzdem am selben Entwicklungspunkt ankommen (vgl. Hille 2016). Besonders interessant ist die motorische Entwicklung. Der Verlauf ist teilweise diskontinuierlich und enthält regressive Phasen (vgl. Hille 2016). Regressive Phasen sind periodisch auftretende Zeitabschnitte mit Entwicklungsrückschritten. In den eben beschriebenen Zeiträumen zeigt sich ein erhöhtes Kontaktbedürfnis, welches von Bezugspersonen als konflikthaft erlebt wird (vgl. Lexikon der Neurowissenschaften). Die Eltern bestärken intuitiv die neuen Fähigkeiten des Kindes, um Rückschritte zu vermeiden. Weiter verlaufen regressive Phasen parallel zu Phasen seelischer Verwundbarkeit (vgl. Lexikon der Neurowissenschaften). Diese Beobachtungen sind auf die reifungsbedingte, abrupte und fundamentale Umorganisation im Gehirn zurückzuführen. Wenn sie überstanden ist, können Kinder verbesserte Lernformen, Wahrnehmungspraktiken und Fähigkeiten abrufen (vgl. Hille 2016). Das Kind selbst ist von diesem Entwicklungsschritt verunsichert und reagiert befremdet, was sich in regressivem Verhalten zeigt. Es wird wieder „babyhaft“ und kann beispielsweise nicht mehr alleine die Treppe laufen, sich nicht selbst die Jacke ausziehen oder verlangt wieder in der Nacht die Flasche. Zusammenfassend folgen auf einem großen Entwicklungsschritt kurzfristige Rückschritte. Dieses Verhalten muss als Schutzmechanismus gedeutet werden.
Die Haltung der Bezugsperson zur Entwicklung des eigenen Kindes ist entscheidend. Wir müssen den Schritt wagen keine Vergleiche anzustellen und das Kind als individuelles Lebewesen anerkennen, was in seiner Eigenheit existiert und dementsprechend angenommen werden sollte. Das Bildungssystem, die Gesellschaft und der Geist der Arbeit versprühen Angst und Unsicherheit. Wird mein Kind bestehen? Ja wird es. Da bin ich mir sicher. Um unseren Kindern und der Gesellschaft ein Vorbild zu sein, müssen wir den inklusiven Gedanken leben und die Eigenheiten der Entwicklung des Kindes respektieren.
Quellen:
- Hille, K. /Evanschitzky, P. & Bauer, A. (2016): Das Kind - Die Entwicklung in den ersten drei Jahren. Psychologie für ErzieherInnen. Bern: hep Verlag
- Juul, J. (2021): Familienberatung – Worauf es ankommt, wie sie gelingt. München: Kösel-Verlag
- Largo, R.H. (2012): Kinderjahre. Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung. 23. Auflage. München: Piper
- Largo, R.H. (2013): Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. 12. Auflage. München: Piper
- Lexikon der Neurowissenschaften: Spektrum.de / regressive Phasen Lexikon der Neurowissenschaft (spektrum.de)
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