02/07/2024 0 Kommentare
"Auf dem Jakobsweg findet man sich selbst"
"Auf dem Jakobsweg findet man sich selbst"
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"Auf dem Jakobsweg findet man sich selbst"
Von Berlin bis Santiago: Am Montag wird eine erste Berliner Stempelstelle des Pilgerwegs nach Santiago eröffnet. Der Pilgerweg führt durch Tempelhof-Schöneberg und an der Königin-Luise-Gedächtniskirche können sich Pilgernde in Zukunft einen Stempel mit Muschel und Regenbogen aholen. EPD-Journalistin Christine Xuân Müller sprach mit dem Pilger, Autor und Aktivisten Jörg Steinert über das Pilgern.
Ihr Buch "Pilgerwahnsinn" beginnt mit den Worten: "Warum fühle ich mich ausgerechnet auf einem überlaufenen katholischen Pilgerweg so geborgen? Ich ostdeutscher Protestant und papstkritischer Geschäftsführer einer Lesben- und Schwulenorganisation?" Also, Herr Steinert, was fasziniert Sie am Pilgern?
Steinert: Es gibt Menschen, die träumen ein Leben lang davon, den Jakobsweg zu gehen. Dieses Bedürfnis hatte ich nicht. Durch meine Arbeit beim LSVD hatte ich zur katholischen Kirche eher ein kritisches Verhältnis - auch wenn wir in Berlin ein respektvolles Dialogformat zueinander haben. Eigentlich wollte ich nur wandern und eine Auszeit nehmen. Aber als ich auf dem Weg war, habe ich das Gemeinschaftsgefühl dort kennengelernt und dass es mehr als wandern ist.
Es ist ein gewisses spirituelles Erlebnis. Und auch Institutionen wie die Kirche - das muss man zugestehen - entwickeln sich weiter. Es war ein positiver Moment, dass ich auf dem Jakobsweg immer auf Menschen gestoßen bin - egal ob sie religiös waren oder nicht - für die meine LGBT-Arbeit niemals ein Problem war. Ich musste nie meine Identität und mein Engagement verstecken.
Und warum macht man den Jakobsweg? Seit dem Mittelalter ist es so, dass manche ein Abenteuer erleben wollten, manche wollten gottgefällig sein. Aber im Ergebnis wird man vor allem mit sich selbst konfrontiert. Man ist sehr viel allein, man kann sich Gedanken über Dinge machen, für die man im alltäglichen Hamsterrad keine Zeit hat, es ist zugleich eine Herausforderung. Auf dem Jakobsweg findet man sich selbst.
In ganz Deutschland steigt angeblich die Pilgerlust. Was ist denn der Unterschied zwischen "Pilgern" und "Wandern"?
Steinert: Ich habe für mich mal die Definition gefunden: beim Wandern bewege ich mich äußerlich, beim Pilgern bewege ich mich auch innerlich. Eine Freundin sagte zudem, es ist wie beim Besuch einer Kirche und dem Besuch eines Museums. Bei beidem geht es oft um Geschichte und etwas Ehrwürdiges. Im Museum werden etwa gesellschaftliche Zusammenhänge vermittelt. Das hat man auch bei einer Kirche. Aber beim Besuch der Kirche ist noch etwas mehr: man hat ein Gefühl der Geborgenheit, es ist ein spirituelles Gefühl. Wenn ich auf dem Jakobsweg bin, spüre ich das. Ich fühle mich geborgen, ich fühle mich da wohl.
Zum Jakobsweg mit dem Ziel Santiago de Compostela in Spanien gehört ein europaweites Wegenetz. Eine Route, die Via Imperii, führt über Berlin und wird nun auch offiziell ausgeschildert. Ist diese Strecke für Pilger genauso spannend wie der Klassiker, der Camino Francés?
Steinert: Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Ich bin mit Freundinnen vor vier Jahren einen Teil des Jakobswegs durch Ostdeutschland gepilgert. Es war wunderschön, aber für mich war es in dem Fall eher Wandern. Der Grund: wir sind in den zwei Wochen auf keinen einzigen anderen Pilger gestoßen. Keinen Einzigen! Zum Pilgern gehört auch die menschliche Begegnung. Und die ist damals ausgeblieben. Die spirituelle Dimension und das, was Pilgern auch ausmacht, kann erst entstehen, wenn Pilger auch den Weg wieder nutzen. Wenn wir jetzt die Infrastruktur bereitstellen, wird der Weg hoffentlich auch wieder mehr genutzt und dann kann auch hier menschliche Begegnung stattfinden.
Pilgern kommt ja vom lateinischen "pergere" oder "per agere" und bedeutet ursprünglich "jenseits des Ackers" oder "in der Fremde". In der Fremde lernt man Fremdes kennen. Wenn ich nur unter meinesgleichen bleibe, kann ich nichts Neues mit in die Heimat nehmen.
Auf dem Jakobsweg waren 2019 Menschen aus 190 Nationen unterwegs - das heißt die ganze Welt ist auf dem Jakobsweg. An kaum einem anderen Ort kann man so viele unterschiedliche Menschen kennenlernen.
Wenn man mit fremden Menschen die Nacht zusammen im Schlafsaal einer Pilgerherberge verbringt, muss man sowohl rücksichtsvoll miteinander umgehen als auch Unterschiedlichkeit aushalten können. Für Deutschland wünsche ich mir, dass diese Dimension beim Pilgern auf den Jakobsweg-Routen dazukommt. Sie ist gerade in Ostdeutschland noch nicht so ausgeprägt. Aber viele Ehrenamtliche in den Jakobusgesellschaften arbeiten daran, dass sie dazukommt.
Jörg Steinert ist der Berlin-Beauftragte des Jakobswegs. Er selbst hat in den vergangenen fünf Jahren rund 5.000 Kilometer zu Fuß auf dem berühmten Pilgerweg zurückgelegt. Darüber hat er ein Buch geschrieben. Nun will Steinert, der auch Geschäftsführer des Lesben- und Schwulenverbandes Berlin-Brandenburg (LSVD) ist, Pilgern in der Hauptstadt zum Trend machen.
(epd ost)
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